Die
Gesellschaft und ihr Strafrecht
Zum
„Proprium des Strafrechts“ bei Winfried Hassemer
Der
Teufel macht es uns nicht leicht. Ohne ihn lebten wir in einer für
uns schlecht vorstellbaren Welt, die spannungslos und unversucht wäre
- kurzum im Paradies. Nach der teuflischen Anstiftung einer eher
unerfahrenen Person endete gerade dort das Glück in einer
beispiellosen Strafaktion. Der Weltprozess menschlicher Verantwortung
beginnt also mit der Strafe. Das Böse, das uns umgibt und spöttisch
angrinst, scheint heute indes von schwererem Kaliber zu sein als
zurzeit der Begegnung Evas mit der Schlange. Oder sollte der Teufel
damals wie heute nur eine undelikate, vorschnelle Erklärung sein, um
sich den Reim auf böse Verhältnisse zu machen, die sich so schlecht
bis gar nicht reimen lassen? Gerade medienberauschte Gesellschaften
lassen sich den Horror des wahren oder so genannten Bösen frei Haus
liefern: Massaker bis hin zum Genozid, Amoklauf in der Provinz. Kinder
töten ihre Eltern, Eltern ihre Kinder. Verwahrlosung wird hier zum
Totschlag, dort werden Kinder unterhalb der hiesigen Strafmündigkeitsgrenze
zu „Killern“. Oder ist das zwar schlimm, aber längst nicht mit
den flächendeckenden Metastasen kollektiver Kriminalität zu
vergleichen? Oder ist Kriminalität nur ein unwirkliches Abstraktum,
ein Erklärungsnotstand und kein Erklärungsmodell? Glaubt man
ernsthaft, einen Dieb, einen Subventionsbetrüger und einen Pädophilen
im Etikett „Straftäter“ so verallgemeinern zu können, dass ähnliche
Reaktionsweisen des Staates legitim erscheinen?
Mutationen
des Strafrechts
Ursachenforschung
würde gegenüber dem Verbrechen zum infiniten Regress, wenn das Recht
keine Entscheidungswissenschaft wäre: Soziologie, Psychologie in
allen Spielarten, Kriminologie, Medientheorie, die versammelten
Disziplinen sind so zahlreich wie inzwischen die Agenturen, die sich
mit abweichendem, strafbarem oder krankem Verhalten befassen. Unsere
bunte Terminologie verrät bereits Zuständigkeitsprobleme, hinter der
die blanke Ratlosigkeit wuchert. Sollen wir Straftäter kollektiv in
die Psychiatrie schicken oder sollten wir die Psychiatrie für nur
vorgeblich schuldunfähige Täter verschließen? Die gesellschaftliche
Problemverwaltung kommt zu Lösungen, die bei näherer Betrachtung
remonstrabel erscheinen. Die Rückfallquoten sind hoch genug. Die Zustände
in den Justizverwaltungsanstalten sind problematisch, um das Mindeste
zu sagen. Ob das organisierte Verbrechen durch Strafen überhaupt
beeindruckt werden kann, ist mehr als eine Nachfrage wert. Dass der
Staat strafen muss und die Gesellschaft Unwerturteile über
menschliches Verhalten ausspricht, ist alles andere als selbstverständlich,
wenn die „Schuld“ zum fragilen Traditionsgut wird, aber auch, wenn
die Präventionen so anfällig in ihrer Wirkung erscheinen. Das
Strafrecht ist spätestens seit dem 19. Jahrhundert in einer Bewegung,
die ein prognostisch mutiger Hegelianer als Selbstabschaffung deuten könnte.
Strafe war zuvor ein Programm der Vergeltung. Das Talionsprinzip
„Auge um Auge, Zahn um Zahn“ leuchtete ein, wie es auch heute noch
einigen Gesellschaften einleuchtet und wie wir es verspüren, wenn wir
von schockierenden Taten hören. So soll jüngst einer Frau im Iran
das Recht zugesprochen worden sein, einen Attentäter, der ihr Gesicht
mit Säure verätzt hatte, in derselben Weise bestrafen zu lassen.
Dieses spiegelnde Strafprinzip ist augenscheinlich nicht einem
Kulturkreis oder einer Religion vorbehalten, wenn solche Strafen zwar
im gegenwärtigen europäischen Kontext undenkbar sind, aber
mindestens dem Stammtisch – in alter mittelalterlicher Verbundenheit
- Spiegelstrafen nicht völlig fremd sind. In der europäischen
Rechtskultur trat in der Folge die Persönlichkeit des Täters stärker
in das Blickfeld als zuvor, als noch allein die Tat den Täter schuf.
Der Täter verwandelte sich vom Delinquenten in einen Menschen, der
auch und gerade in der Strafe zu achten ist, zuvor aber überhaupt
erkannt werden muss, um vernünftig auf sein Verhalten reagieren zu können.
Der Täter ist mehr als ein Täter, er veränderte sich zum
besserungsfähigen Subjekt und wurde mitunter selbst als Opfer der
Gesellschaft, der Familie, seiner genetischen oder hormonellen
Dispositionen wahrgenommen.
Die
Überlastung des Strafrechts
Und
was macht das Strafrecht gegenwärtig aus diesem Wissen? Winfried
Hassemer nennt seine auf das breite Publikum zielende Skizze
apologetisch: „Warum Strafe sein muss“. Der Titel ist spekulativ
auf die fragile Aufmerksamkeit des Lesers gerichtet, weil er das
Leitmotiv „law and order“ anzustimmen scheint. Hassemer,
ehemaliger Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, ist indes ein
liberaler Strafrechtler, der eine ausgewogene Konzeption des Strafens
entfalten will. Sympathisch ist seine Darstellung, so weit er nicht
dogmatisch Ergebnisse mitteilt, sondern seine Auffassungen oft eher
als Mitmach-Programm für den Leser reflektiert und mitunter sogar
sein Wissen tastend vorstellt. Freilich, auch nach der Lektüre bleibt
das Thema offen, weil sich hier, an diesem dunklen Ort, der früher
deshalb als Verlies in das Erdreich verschoben wurde, die
„conditio humana“ in ihren zahllosen Widersprüchen und Paradoxa
demonstriert. Genau da kann das Strafrecht aber nicht stehen bleiben,
in der Offenheit des immer wieder verhandelten Menschenbildes, sondern
es werden Entscheidungen notwendig, harte Entscheidungen, die
irreversibel sein können und – wie sich allein in den letzten
Jahren in vielen DNA-Expertisen gezeigt hat, auch falsch, absolut
falsch sein können. Strafen hieß immer auch, Unschuldige zu
verurteilen, weil Menschen, selbst hochmögende Richter, fehlsam
entscheiden können.
Wie
also verfahren wir? Was ein anderer deutscher Strafrechtslehrer „Prävention
innerhalb der Schuldvergeltung“ nannte, ist immer noch das Problem,
als dessen Lösung es sich ausgibt. Was heißt Schuld? Was heißt Prävention?
Und was soll die Schuld als individuelles Prinzip mit
gesellschaftlichen Funktionen zu tun haben? „Wenn man sich an diese
Alternativen zur Rechtfertigung und Kritik des Strafrechts erinnert,
an die Wahl zwischen Klassik und Moderne, zwischen Repression und Prävention
und dabei ihre Konsequenzen für die heutige Wirklichkeit des
Strafrechts einbezieht, dann zögert man doch beim Lob der Prävention
und fragt sich, ob die Option für diese Moderne im Strafrecht
wirklich so klug und heilsam war, wie ich das gerade gerühmt habe“,
hat Hassemer an anderer Stelle gesagt.
Das
ist eine Bemerkung, die es in sich hat und Leitmotiv der vorliegenden
Untersuchung ist. Denn ist nicht die Prävention immer entscheidender
nach vorne gedacht worden, um die rückwärts gewandten, repressiven
Momente des Strafens in dunkler Geschichte zurück zu lassen? Wir
haben mit zahlreichen Straftheorien gelernt, dass Strafen keine
Marginalie ist, keine Angelegenheit, die nach Gutdünken vollzogen
werden dürfte, wenn nicht das ganze Zivilisationsprogramm riskiert
werden soll. Das Strafrechtssystem einer Gesellschaft ist der
Indikator für den erreichten Zivilisationsstandard. Für Immanuel
Kant war diese Frage so wichtig, dass eine Zivilisation vom Erdenrund
sich ohnehin nur verabschieden sollte, wenn sie ihr Strafprogramm
beendet, sprich: den letzten Delinquenten, zur Richtbank geführt hat.
Strafen hat aber zugleich den „Geruch“ der Ausnahme, ja mehr, des
Scheiterns des Zivilisationsprogramms. Es will nicht in unser
Gutmenschenbild passen, dass Menschen so böse sind, dass wir sie in
der Gesellschaft aus der Gesellschaft entfernen und in eine andere, künstliche
Strafgesellschaft verbringen. Nun soll die Zwecksetzung, die
Vorbeugung nicht die ganze Packung sein, sondern ein zwar plausibles,
aber nicht hinreichendes Prinzip des Strafens. Hassemer „entzweckt“
die Strafe, um nicht den Menschen aus dem Auge zu verlieren. Wir
verurteilen und strafen Menschen und wie gut der Zweck auch immer sein
mag, letztlich bleibt das Ungeheuerliche, einen anderen Menschen zu
strafen, sich zum Richter aufzuschwingen, ob nun im Namen Gottes oder
des Volkes. Wer Recht ausübt, weiß um diese Dialektik, eben hier
vielleicht selbst großes Unrecht auszuüben und darüber schuldig zu
werden.
Aporien
des Strafrechts
Hassemer
plädiert mit mächtigen Gewährsleuten wie Hegel für die Würde des
Menschen, die der Straftäter in der Strafe nicht verliert. Der Mensch
darf nicht zum Hund werden, gegen den man den Stock heben dürfe –
anderenfalls ist das Strafrecht nur noch instrumentell ausgerichtet,
wird zum bloßen „Kampfinstrument“. Hier
regen sich einige Zweifel, denn die Instrumentalisierung des
Strafrechts erscheint nicht nur als Exzess der Präventionsidee,
sondern nimmt teil am Rationalisierungsprogramm der (spät)modernen
Gesellschaft respektive ihres Staates. Die Ausdifferenzierung von
Regeln, die Zunahme von Komplexität eines sich selbst reflektierenden
Rechts und des dort verhandelten Menschenbildes sind Strukturmomente,
die den Kontakt zum Überprinzip
„Gerechtigkeit“ nicht vereinfacht haben. Das Recht neigt zur
eigensinnigen Selbstaufblähung, wie es die Bürokratietheorie schon
kurz nach dem Kriege für alle Formen von Administration erkannte. Die
permanente Selbstreferenz einer Dogmatik auf die von ihr aufgeworfenen
Probleme gerät zudem in mitunter scholastische Begründungsregresse,
deren Selbstläufigkeit sich zu oft von den ursprünglichen Zwecken
absetzt – so wenig das in diesem Fall mit einem fröhlichen „back
to the roots“ gekontert werden könnte.
Winfried
Hassemer will wenigstens teilweise wieder zurück auf überlieferte
Prinzipien, die die Auswüchse der Prävention zurücknehmen. Ein
Beispiel sind abstrakte Gefährdungsdelikte, mit denen sich die
Verurteilungswahrscheinlichkeit erhöht, weil die gesetzlichen
Tatbestandsmerkmale - wie etwa beim Subventionsbetrug - reduziert
werden. Unrecht, Schuld, Verantwortung marginalisieren sich der guten
Sache wegen, die den Täter zu verschlingen droht. Doch lassen sich
alte Grenzziehungen der Strafe neu verlegen oder wird das zum
dogmatischen Etikettenschwindel bzw. Begründungsregress? Wie sich früher
der Kapitalismus den Vorwurf zuzog, der Basisideologie des gerechten
Tauschs zu frönen, so fragt sich hier und heute, wie die „Schuld“
oder die „Verantwortung“ denn zu parametrisieren sind, wie sie als
Elemente der Gerechtigkeit überhaupt eingesetzt werden können. Das
Problem hat noch keine Strafrechtstheorie zur dauerhaften Überzeugung
aller „billig und gerecht Denkenden“ lösen können. Hier stoßen
wir auf die älteste Aporie des modernen Strafrechts. Jede Tat ist
individuell, hat ihre eigene Form und vor allem ihren eigenen Täter,
doch die Art der Strafe ist homogen: Freiheitsentzug oder Geldstrafe.
Der Freiheitsentzug soll den Täter auf eine straffreie Zukunft
vorbereiten und entfaltet sich als komplex-widersinnige Langeweile:
Denn einerseits verliert man Lebenszeit, der Staat zerstört den
sozialen Kontext des Straftäters und opfert damit seine wichtigsten
Lebensbezüge und andererseits wird man eben darauf wieder
vorbereitet. Hassemer spricht davon, dass „repressive Überlegungen“
zu einer „Strafmenge“ führen, die sich für den Täter „als
eine leere Zeit auswirkt“. „Leere Zeit“ bleibt aber das
Stichwort, das nicht nur den Täter, sondern auch den Betrachter der
Strafjustiz respektive des Strafvollzugs in ihren gegenläufigen
Tendenzen unbefriedigt lässt. Gerade die „leere Zeit“ ist im
modernen Strafvollzug immer stärker zurückgedrängt worden, was eben
nicht nur Resozialisierung heißt, sondern Achtung der Menschenwürde
des Täters während des Strafvollzugs. Widerspricht die Verstoßung
des Täters in die leere Zeit nicht diesem hohen Anspruch und zugleich
der Idee der Prävention? Vergelten wir die Tat mit einem Übel, wird
der Täter vielleicht in seinem Tun bestätigt und das Strafkonzept
kollabiert in seiner ganzen Vergeblichkeit. Man erzieht Kinder nicht
zur Gewaltlosigkeit, indem man sie schlägt. So abwegig ist dieser
Vergleich nicht, wenn die eigengesetzliche Gesellschaft des
unheimlichen Planeten „JVA“ auf das diffuse Verhältnis von
(Re)sozialisierungsleistungen und sozialer Demontage des Täters
hin untersucht würde.
Winfried
Hassemer geht es in dem, was man freundlicher – aber immer noch
ambivalent - als die soziale Dekonstruktion des Täters nennen könnte,
um die „limitierende Funktion des Schuldprinzips“ bzw. das
„strafrechtliche Verfassungsrecht“, das die diversen Strafzwecke
in ein maßvolles Verhältnis setzt. Erleben wir hier die
verfassungsrechtliche Quadratur des verhängnisvollen Kreises von
Schuld und Strafe? Hassemer stützt sich auf das Prinzip der
„positiven Generalprävention“, die darauf setzt, dass Menschen
Normen anerkennen und ihnen zur Geltung verhelfen wollen. Auch wenn
wir mit vielen guten Gründen dem Strafrecht diese gesellschaftliche
Aufgabe zusprechen, kann sie gerade heute nur mit Mühen konsistent
formuliert werden, weil Gesellschaften heterogener werden und der
Begriff einer verfassungsrechtlichen Werteordnung eine Einheitlichkeit
suggeriert, die jedenfalls im Begriffspaar von Schuld und Strafe nur
schwer einlösbar ist. Soweit im Rahmen der positiven Generalprävention
die Schuld zur Begrenzung der Strafe eingesetzt werden soll, forciert
das die Frage, was denn heute noch „Schuld“ genannt werden soll.
Auch nach der Lektüre Hassemers bleibt unklar, warum wir überhaupt
ein Strafrecht benötigen, das noch um den Begriff „Schuld“ kreist
– wenn dieser Begriff doch eine der schlimmsten Hypotheken der
Strafjustiz markiert und in seiner Diffusität besonders
missbrauchsgeeignet erscheint. Hassemer eskamotiert die Schuld nicht
aus seinem Diskurs, obwohl ihm die Brüchigkeit der Theorie des freien
Willens so geläufig ist, dass er die Altdifferenz „Determinismus/Indeterminismus“
längst verabschiedet hat. Schuld als negatives
Strafbegrenzungsinstitut funktioniert nur, wenn zuvor positiv geklärt
ist, was denn „Schuld“ ist. Soweit Hassemer mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip
für eine präzise Reaktion auf die Tat und Persönlichkeit des Täters
plädiert, geraten wir in diese Spannung zwischen den
Schuldabstraktionen wie –fiktionen des Strafrechts und einer
plausiblen Strafzumessung. Wenn das Strafrecht sein „proprium“
betont, muss es dieses „proprium“ auch aus sich heraus begründen
können, sonst wäre es keines. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip
nimmt ihm diese Aufgabe nicht ab, denn die Formalisierung und
Restriktion der Strafzumessung antwortet nicht auf die Frage nach der
Schuld und dem Sinn der Strafe. Die Wichtung von krimineller Energie hängt
je vom zugrunde liegenden Menschenbild ab, was in einer Verfassung
nicht hinreichend konkretisiert werden kann, um daraus griffige
Schuldparameter abzuleiten. Täter werden durch das Strafrecht
erzeugt. Es sind Gesellschaften denkbar, die völlig andere Kategorien
der Strafbarkeit entwickeln oder sie gegen soziale Strategien
austauschen, die ihre Zwecke einsinniger angeben können, ohne die
Komplexität dieser sozialen Erscheinung, die wir Verbrechen nennen,
einzuschmelzen. Die Irrationalität von Schuldkonzepten wiegt zu
schwer, um sie wieder in einer dogmatisch aufgeweichten Form zur
Hintertür hereinzulassen. Auch nach der lohnenswerten Lektüre von
Winfried Hassemers Text lösen sich diese - nicht erst heute zum
ersten Mal beobachteten - Aporien der Begründung des Strafrechts längst
nicht auf, was uns deutlich macht, dass die Zivilisation hier noch
einige Aufgaben zu erledigen hat.
Goedart
Palm
Winfried
Hassemer - Warum Strafe sein muss
- Ein
Plädoyer
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