Im
Rahmen von Klageverfahren kommt es regelmäßig darauf an, wann die Insolvenzreife
eines Unternehmens eingetreten ist. Der Insolvenzverwalter wird darauf
hinweisen, dass Zahlungen auf wesentliche Verbindlichkeiten, obwohl sie
fällig (Fälligkeit lt. Rechnung nicht erst Verzug
oder Mahnung) sind, nicht mehr geleistet wurden. Also muss man sich
die Verbindlichkeiten genauer anschauen. Verteidigt sich etwa der
GmbH-Geschäftsführer wird er darauf hinweisen, dass die Liquiditätsengpässe
gering waren. Das bleibt juristisch ein diffuser Bereich, weil es auf
Zukunftseinschätzungen ankommt, die nicht leicht zu treffen sind.
Was
eine Zahlungsunfähigkeit ist, wurde bisher eher chaotisch definiert, wie
der BGH neulich feststellen konnte: "Zahlungsunfähig ist danach auch
ein Schuldner, der nur einen Gläubiger hat und außerstande ist, diesen
zu befriedigen. Eine Quote zum
Ausscheiden "ganz geringfügiger Liquiditätslücken" wird
teilweise ganz abgelehnt. Andere halten für "ganz geringfügig" eine Quote von unter
5 %. Vereinzelt wird auch eine Rückkehr zum Begriff der Zahlungsunfähigkeit
nach der Konkursordnung befürwortet.
Der
Bundesgerichtshof (24.05.2005; - IX ZR 123/04) hat das genauer
definiert. Nach Auffassung des Senats ist daran festzuhalten, dass eine
Zahlungsunfähigkeit, die sich voraussichtlich innerhalb kurzer Zeit
beheben lässt, lediglich als Zahlungsstockung gilt und keinen Insolvenzeröffnungsgrund
darstellt...Als Zeitraum für die Kreditbeschaffung
sind zwei bis drei Wochen erforderlich, aber auch ausreichend. Die Vorschrift des § 64 Abs. 1
Satz 1 GmbHG zeigt, dass das Gesetz eine Ungewissheit über die
Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit der Gesellschaft längstens drei
Wochen hinzunehmen bereit ist.
a)
Eine bloße Zahlungsstockung ist anzunehmen, wenn der Zeitraum nicht
überschritten wird, den eine kreditwürdige Person benötigt, um
sich die benötigten Mittel zu leihen. Dafür erscheinen drei Wochen
erforderlich, aber auch ausreichend.
b) Beträgt eine innerhalb von drei
Wochen nicht zu beseitigende Liquiditätslücke des Schuldners
weniger als 10 % seiner fälligen Gesamtverbindlichkeiten, ist
regelmäßig von Zahlungsfähigkeit auszugehen, es sei denn, es ist
bereits absehbar, dass die Lücke demnächst mehr als 10 % erreichen
wird.
c) Beträgt die Liquiditätslücke
des Schuldners 10 % oder mehr, ist regelmäßig von Zahlungsunfähigkeit
auszugehen, sofern nicht ausnahmsweise mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass die Liquiditätslücke demnächst
vollständig oder fast vollständig beseitigt werden wird und den Gläubigern
ein Zuwarten nach den besonderen Umständen des Einzelfalls
zuzumuten ist. |
Liegt bei einem Unternehmen eine "Unterdeckung"
von weniger als 10 % vor, reicht das nicht - isoliert betrachtet - zum
Beleg der Zahlungsunfähigkeit. Der Begriff der Zahlungsunfähigkeit in §
64 GmbHG kann nicht anders verstanden werden als in § 17 InsO. Denn für
den Beginn des den Geschäftsführer treffenden Zahlungsverbots genügt in
objektiver Hinsicht die bestehende Insolvenzreife.
In diesem Fall muss der
Insolvenzverwalter die Zahlungsunfähigkeit anhand anderer Anhaltspunkte
beweisen. In der umgekehrten Situation - das flüssige Kapital reicht
nicht, um 10% oder eben mehr der Forderungen zu erfüllen, muss der
Geschäftsführer Anhaltspunkte liefern, dass dieser Engpass in näherer
Zukunft behoben worden wäre. Die 10 % sind also keine magische Grenze,
sondern eine widerlegbare Vermutung. Vorübergehende Zahlungsstockungen
begründen noch keine Zahlungsunfähigkeit. Drei Wochen wären noch ein
Zeitraum einer erträglichen Zahlungsstockung, wie der BGH (s.u.)
ausführt.
Im Übrigen geht es um die Frage, ob sich
der Geschäftsführer sorgfältig verhalten hat, mit anderen Worten:
"War es einem sorgfältig handelnden Geschäftsmann erkennbar, dass
Insolvenzreife eingetreten war?"
Dazu der BGH: "Entscheidend ist
hier, ob im Zeitpunkt der Zahlung bei Anwendung der Sorgfalt eines
ordentlichen Geschäftsmannes die Insolvenzreife der Gesellschaft für den
Geschäftsführer nicht erkennbar ist, wobei diesen allerdings die volle
Darlegungs- und Beweislast trifft (BGHZ 143, 184, 185; BGH, Urt. v. 1. März
1993 - II ZR 61/92, WM 1994, 1030, 1031). Wenn dieser erkennt, dass die
GmbH zu einem bestimmten Stichtag nicht in der Lage ist, ihre fälligen
und eingeforderten Verbindlichkeiten vollständig zu bedienen, jedoch
aufgrund einer sorgfältigen und gewissenhaften Prüfung der Meinung sein
kann, die GmbH werde vor Erreichen des Zeitpunkts, bei dem eine
Zahlungsstockung in eine Zahlungsunfähigkeit umschlägt - also binnen
drei Wochen -, sämtliche Gläubiger voll befriedigen können, darf er
innerhalb dieses Zeitraums, solange sich seine Prognose nicht vorzeitig
als unhaltbar erweist, Zahlungen, die mit der Sorgfalt eines ordentlichen
Kaufmanns vereinbar sind (vgl. § 64 Abs. 2 Satz 2 GmbHG), an Gläubiger
leisten, ohne die Haftung befürchten zu müssen. Müsste er anstehende
Zahlungen zurückhalten, bis die Zahlungsfähigkeit insgesamt wieder
hergestellt ist, würde er dadurch die Geschäftsbeziehungen zu den
betreffenden Gläubigern, auf deren Fortführung der Betrieb der
Schuldnerin mehr denn je angewiesen ist, gefährden. Auch läge eine
Zahlungseinstellung vor, mit welcher der Geschäftsführer möglicherweise
Eröffnungsanträge der Gläubiger (§ 14 InsO) herausfordern würde. Ist
die Zahlungsfähigkeit nach Ablauf der Frist noch nicht wieder
hergestellt, darf er - weil nunmehr die endgültige Zahlungsunfähigkeit
fest steht - nur noch solche Zahlungen leisten, welche die Insolvenzmasse
nicht schmälern oder erforderlich sind, um das Unternehmen für die
Zwecke des Insolvenzverfahrens zu erhalten.
Für die Prognose, die der Geschäftsführer
anstellen muss, sobald bei einer Liquiditätsbilanz eine Unterdeckung
festzustellen ist, und die er bei jeder vorzunehmenden Zahlung
kontrollieren muss, sind die konkreten Gegebenheiten in bezug auf den
Schuldner - insbesondere dessen Außenstände, die Bonität der
Drittschuldner und die Kreditwürdigkeit des Schuldners -, auf die Branche
und die Art der fälligen Schulden zu berücksichtigen
"...Einen Insolvenzgrund auch
bereits bei sehr kleinen Liquiditätslücken
anzunehmen, verbietet sich schließlich im Interesse des Schuldners.
Sofern seine Auftragslage gut ist und künftig mit anderen Zahlungseingängen
gerechnet werden kann, wäre es unangemessen, wenn er wegen einer vorübergehenden
Unterdeckung von wenigen Prozent, die nicht binnen drei Wochen
beseitigt werden kann, Insolvenz anmelden müsste. Der damit verbundene
Eingriff in grundrechtlich geschützte Positionen (Art. 12, 14 GG) wäre
unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit bedenklich
(Himmelsbach/Thonfeld aaO S. 15)."
Warum eigentlich 10
%?
"Eine starre Grenze hätte auch der
Gesetzgeber einführen können. Da er davon abgesehen hat, wollte er
offensichtlich für die Rechtsanwendung eine gewisse Flexibilität
ermöglichen. Würde beispielsweise angenommen, bei einer Unterdeckung von
weniger als einem bestimmten Vomhundertsatz läge keine Zahlungsunfähigkeit
vor, beim Erreichen dieses Vomhundertsatzes jedoch stets, bliebe unberücksichtigt,
dass derartige Quoten für sich allein genommen keine abschließende
Bewertung eines wirtschaftlich komplexen Sachverhalts wie der Zahlungsunfähigkeit
erlauben. Bei einem Unternehmen, dem im Hinblick auf seine Auftrags- und
Ertragslage eine gute Zukunftsprognose gestellt werden kann, hat eine
momentane Liquiditätsunterdeckung in Höhe jenes Vomhundertsatzes eine
ganz andere Bedeutung als bei einem solchen, dem für die Zukunft ein
weiterer geschäftlicher Niedergang prophezeit werden muss. Daher kommt
die Einführung eines prozentualen Schwellenwerts nur in der Form in
Betracht, dass sein Erreichen eine widerlegbare Vermutung für die
Zahlungsunfähigkeit begründet.
Der Senat hält es für angemessen, den
Schwellenwert bei 10 % anzusetzen. Ein höherer Wert ließe sich mit der
Absicht des Gesetzgebers, die Anforderungen an die Annahme der Zahlungsunfähigkeit
abzusenken, schwerlich vereinbaren. Andererseits wäre ein niedrigerer
Schwellenwert als 10 % - in Betracht kommt dann nur noch 5 % - dem
rigorosen "Null-Toleranz-Prinzip" zu sehr angenähert, um noch
praktische Wirkungen entfalten zu können.
Liegt eine Unterdeckung von weniger als
10 % vor, genügt sie allein nicht zum Beleg der Zahlungsunfähigkeit.
Wenn diese gleichwohl angenommen werden soll, müssen besondere Umstände
vorliegen, die diesen Standpunkt stützen. Ein solcher Umstand kann auch
die auf Tatsachen gegründete Erwartung sein, dass sich der Niedergang des
Schuldner-Unternehmens fortsetzen wird. Geht es um die Eröffnung eines
Insolvenzverfahrens, muss das Insolvenzgericht im Rahmen seiner
Amtsermittlungspflicht (§ 5 Abs. 1 Satz 1 InsO) solche Umstände
feststellen. Geht es um die Geschäftsführerhaftung nach § 64 GmbHG, muss
die Gesellschaft, die den Geschäftsführer in Anspruch nimmt, oder deren
Insolvenzverwalter die besonderen Umstände vortragen und beweisen.
Beträgt die Unterdeckung 10 % oder mehr,
muss umgekehrt im Rahmen des § 64 GmbHG der Geschäftsführer der
Gesellschaft - falls er meint, es sei doch von einer Zahlungsfähigkeit
auszugehen - entsprechende Indizien vortragen und beweisen. Dazu ist in
der Regel die Benennung konkreter Umstände erforderlich, die mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erwarten lassen, dass die
Liquiditätslücke zwar nicht innerhalb von zwei bis drei Wochen - dann läge
nur eine Zahlungsstockung vor -, jedoch immerhin in überschaubarer Zeit
beseitigt werden wird. Im Zusammenhang mit einem Gläubigerantrag (§ 14
InsO) muss sich der Schuldner auf diese Umstände berufen, und das
Insolvenzgericht hat sie festzustellen (§ 5 Abs. 1 Satz 1 InsO). Je näher
die konkret festgestellte Unterdeckung dem Schwellenwert kommt, desto
geringere Anforderungen sind an das Gewicht der besonderen Umstände zu
richten, mit denen die Vermutung entkräftet werden kann. Umgekehrt müssen
umso schwerer wiegende Umstände vorliegen, je größer der Abstand der
tatsächlichen Unterdeckung von dem Schwellenwert ist."
Im übrigen wird man sich in diesen
Fällen immer fragen müssen: Durfte noch gezahlt werden, um den
Geschäftsbetrieb aufrechtzuerhalten? Das wäre etwa der Fall, wenn den
Zahlungen Eingänge korrespondierten, sodass dadurch keine
Benachteiligungen oder Masseschmälerungen eingetreten sind. |